Geschichten aus der "guten alten Zeit"
Von Dr. Karl Seibel und seinem wandelnden Patienten-Lexikon
Von unserem Mitarbeiter Gerd Werner
Es war die Zeit, in der die Großfamilie noch nicht
die Ausnahme war. Da wohnten die Urgroßeltern, die
Großeltern die Eltern und ihre Kinder noch unter einem
Dach. Da saßen dann viele hungrige Mäuler an
einem großen Tisch und stocherten in der großen,
schwarz angerußten Pfanne, die mitten vor ihnen stand.
Heile Welt?
Ich erinnere mich noch gut, als ich damals bei der Stadtverwaltung
Dillenburg in der Lehre war. Ein Kollege erzählte,
dass er seinen Vater ins Altenheim gebracht habe. Ich war
damals sprachlos. Zunächst musste man mich aufklären,
was überhaupt ein Altenheim ist. Das war mir unbekannt.
Und dann hatte ich für diesen Mann längere Zeit
nur Verachtung übrig. Bringt der seinen Vater in so
ein Haus! Das war halt der Unterschied zwischen einer Kleinstadt
und einem kleinen Dorf.
Ob Ludwig Rühle, Heimatdichter aus Nenderoth, dies
Anfang des Jahrhunderts schon ahnte, als er in einem seiner
Gedichte aus dem Band "Eich will dr mol n spass verzehl"
dichtete:
"De Junge un de Ahle
vertraa sich manchmol gor
ze schleecht,
uns komme nur de wingste
menanner wäi mr sät -
zereecht.
Dr ahl Grusshannes hot mol
n wuhr Redd droff gedou:
"Wann hau de Junge Huckset hu,
hirn morn de Ahle duhtgeschlou!"
Arzt-Wunschliste im Gemeindehaus
Hart, aber in der heutigen Zeit ist das so: Da wollen die
Jungen Leute Urlaub machen, aber wohin mit den Alten? Die
Zahl der alten Menschen, die "abgeschoben" werden, ist nicht
gerade gering.
Nun, in dieser Zeit damals war die ärztliche Versorgung
der Menschen auf dem Lande ganz anders als heute. In Erdbach,
meinem langjährigen Heimatort, mussten die Angehörigen
eines Patienten den Wunsch nach einem Doktor mit dem Griffel
auf die schwarze Schultafel schreiben, die im Gemeindehaus
hing. Da
konnte man wählen zwischen Dr.med. Seibel (seine
Praxis war in diesem Haus - Foto rechts) oder Dr.med.
Bender, beide aus Breitscheid. Die kamen dann ein oder zweimal
die Woche und sahen sich in ihrem "Doktorzimmer" im Gemeindehaus
die gehfähigen Patienten an. Die Bettlägerigen wurden
natürlich zu Hause besucht. Die Namen standen ja auf
der Tafel.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie so ein Hausbesuch vonstatten
ging: Da kam dann Dr. Seibel mit seinem Chauffeur Heinz Nickel
durch die Küchentür gestürmt. Anmelden konnte
man sich damals nicht, es gab keine Klingeln und Sprechanlagen.
Man wusste nie, wer im nächsten Moment im Zimmer stand.
Erst mal einen Teller Gemüsesuppe
Dr. Seibel kam also in die Küche, sah, dass es eine gute
Gemüsesuppe zum Essen gab, holte sich einen Teller aus
dem Küchenschrank und bediente sich. Das hat keineswegs
etwas mit Unverschämtheit zu tun. Es war eine Ehre für
die Familie, wenn der Doktor sich so frei bewegte.
Und nach der Stärkung vergaß es der Medizinmann
nicht, sich nach dem Gesundheitszustand des Patienten zu erkunden.
Damals wurden übrigens die Medikamente noch in Einzelabgabe
verschrieben. Da hieß es dann 5 Tabletten von diesem
und 3 Tabletten von jenem.
Gertrud Richter brachte die Arznei
Aber woher damals die Medikamente bekommen? Auch dafür
gab es eine Patentlösung: Gertrud Richter war damals
die rechte Hand vom Chef der Dill-Apotheke in Herborn. Und
alle Rezepte, die nicht gar so eilten, wurden ihr mitgegeben.
Am nächsten Abend warteten dann am Bahnhof einige Medikamentenempfänger,
um sich von Gertrud die bestellten Arzneimittel aushändigen
zu lassen.
Nickel war Arzthelfer und Fahrer zugleich
Zum Chauffeur von Dr. Karl Seibel, dem Breitscheider Heinz
Nickel, muss noch etwas angemerkt werden: Er war ein wandelndes
"Patienten-Daten-Lexikon". Unglaublich, was dieser Mann, der
wahrscheinlich damals wie heute der einzige Arzthelfer und
Fahrer in Personalunion war, alles im Kopf hatte. Er wusste
sämtliche Daten aller von Dr. Seibel betreuter Familien.
Damals brauchte der Arzt beileibe noch keinen Computer, und
Datenschutz gab es auch nicht.
Ja, ja, es war schon eine besondere Zeit, die Zeit damals
in einem kleinen Dorf.
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