Die Erweckungsbewegung in unserem Gebiet
Um das Jahr 1700 waren die
Städte Herborn, Gießen, Marburg und Berleburg Brennpunkte einer geistlichen
Bewegung, die von dem Frankfurter Pfarrer Philipp
Jakob Spener (1635 -1705) ausging. 1675 hatte Spener seine "Pia desideria" (fromme Wünsche) herausgegeben, in denen er
den Weg zu einer lebendigen Frömmigkeit zeigte, die zum Ziel eine neue
Reformation hatte. Als Beginn des Pietismus muß die
Herausgabe dieser "frommen Wünsche" gelten. Außer Spener waren August Hermann Francke (1663 -1727)
in Halle und Gottfried Arnold (1666 -1714),
der Verfasser der "Unparteiischen (d. h. unkonfessionellen) Kirchen-
und Ketzerhistorie", die Träger und Führer dieser Bewegung, neben dem
lutherischen Generalsuperintendenten Johann
Arndt (1555 -1621) in Celle, der durch seine Bücher „Vom wahren
Christentum" das neue Frömmigkeitsideal stark bestimmt hatte. Vor wenigen
Jahrzehnten wurden Arndts Bücher zusammen mit den „Predigten von Harms"
und "Stark's Gebetsbuch" noch viel in
unserer Gegend gelesen.
Um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts standen die Hohen Schulen in Herborn und Marburg unter dem Einfluß der neuen
Bewegung. In Herborn stand in ihrem
Mittelpunkt in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts der Pfarrer Heinrich Horche (1652 -1729), der
dort 1690 Professor der reformierten Theologie geworden war und vorher als
Prediger in Frankfurt Spener und seine Arbeit kennengelernt hatte. Horche
empfand die Schäden der Kirche tief und erstrebte sehnsüchtig und
leidenschaftlich eine Erneuerung des Glaubenslebens. Er richtete nach Speners Vorbild in Herborn Bibelstunden in kleinen Kreisen
ein und gewann durch seine Hingabe an die Sache viele Anhänger. Als er dann
1697 dem Rektor der Hohen Schule erklärte, er könne der Prüfung der jungen
Theologen nicht mehr beiwohnen, da diese von der bestehenden Kirche zu
Heuchlern erzogen würden und er sich in vielen anderen Punkten zum Separatismus
(Loslösung von der Kirche) bekannte, wurde er 1697 vorübergehend und 1698
endgültig seines Amtes enthoben. Darüber kam es in Herborn zu Unruhen, und bei
seinem Auszug wurde Horche von vielen seiner Anhänger feierlich begleitet.
Dadurch wurde die Bewegung noch mehr in die Absonderung gedrängt. Es lag auch
Schuld auf Horches Seite, der eine heftige Gemütsart
hatte und leicht reizbar war. Sein heiliger Ernst aber und seine Wahrheitsliebe
ehren ihn.
Nach dem Abzug Horches entstanden in Herborn Bibelstunden-Kreise und Hausversammlungen, womit ein Wunsch
des Stadtrates, der Studenten und Bürger erfüllt wurde. Dem Kreis um Horche schloß sich auch
der Pfarrer Philipp Jakob Dilthey
aus Haiger an, der an der Rechtmäßigkeit der Kindertaufe irre
geworden war und abgesetzt wurde, weil er sein Kind nicht taufen
ließ. Er baute sich in Saßmannshausen (Wittgenstein) eine Einsiedelei
und lebte dort unter den Gläubigen in großem Ansehen. Horches
Einfluß hatte weite Kreise gezogen. Auch die Bewohner der
Dörfer waren davon erfaßt worden. Die
ländliche Bevölkerung hatte ja Gelegenheit gehabt, Horche auf
den Wochenmärkten in Herborn und an den Donnerstagen zu hören.
Steubing schreibt in
seiner "Topographie" (Ortsbeschreibung) um 1790 von
Uckersdorf: "Zu Anfang dieses Jahrhunderts sind hier viele
Pietisten, besonders Horcheaner gewesen."
Wie die Bewegung im Kirchspiel Breitscheid,
besonders in Medenbach
Wurzel geschlagen hat, erfahren wir aus einem Bericht des Pfarrers
Wehler (Breitscheid) an den Fürsten und das Konsistorium in Dillenburg
im Jahre 1704. In bewegter Weise führt er Klage über das „Sektenwesen':
"Nicht wenigeren
Schaden empfindet die Kirche durch das sogar wie eine Pestilenz
eingerissene Zankwesen, worinnen viele
sogar erbittert sind, daß sie jahr und tag dabei verharren, predigern und
ältesten bey gewöhnlichen Hausvisitationen
und anderen privatzuredungen auf wohlgemeinte
Erinnerung unbescheidentlich antworten,
zu widriger religion sich zu begeben androhen, die zu gutem Zweck angedrohte
obrigkeitliche Hüllfe verspotten, das
hl. abendmahl, weiss mit welcher maasen, ohne öffentliche kommunion
und annehmung eingesetzter Zeichen,
halten und geniessen zu können vorgeben und (sich) sonst in allem weg
und wandel so verhalten, dass an ihrer besserung
fast zu zweifeln (ist); vnter welchen
vor allen anderen, soviel (ich) erkennen kann, sich nahmentlich
heraussetzen, Anna Margaretha, Jost Henrich Nicodemi
hinterlassene wittib und ihre tochter Anna Margaretha,
Daniel Pauschen ehelische haussfraw, beyde zu Medenbach, welche
in der gleichen ärgerlichen wesen biss ins dritte Jahr annoch verharren."
Von dieser Bewegung, die von Herborn ausging und besonders stark in Medenbach war, finden wir heute in unseren
Dörfern kaum noch Spuren. Ganz allgemein kann aber auch vom Dillkreis
und Westerwald gesagt werden, was Jakob
Schmitt vom Siegerland schreibt: "Die Zeit von 1700 -
1800 ist in geistiger und geistlicher Beziehung viel reicher und
bewegter, als man bisher angenommen oder gewußt
hat."
Was sich heute in unserer Gegend an geistlichem Leben findet, hat seinen Ursprung
in der Hauptsache in der Erweckungsbewegung, die am Anfang des
vorigen Jahrhunderts vom Wuppertal
ausging und auf das Siegerland
übergriff. Viele Männer vom Westerwald und aus dem Dillkreis waren
im SiegerIänder Bergbau und in der Hüttenindustrie tätig, und
manche wurden dort erweckt und bekehrt. Auch Siegerländer Brüder
besuchten die im Entstehen begriffenen Gemeinschaften in unserer
Gegend. Schon in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts
kamen die Gläubigen in kleinen Kreisen zusammen. So begann man
in Herborn anfangs der 20er Jahre ganz in
der Stille mit einer Versammlung im Haus der Familie Reinhard. Etwas später sammelte sich auch in Dillenburg ein Kreis um das Wort Gottes. Die Seele dieser Gemeinschaft
war der Schuhmacher Jakob
Schramm, der in Frankfurt
zum heilsgewissen Glauben gekommen war.
Es waren besonders zwei Männer, die Gott in der Erweckung im Siegerland gebraucht
hat. Der eine war Tillmann
Siebel (1804 -1875),
ein geistlicher Führer und Vater der Gläubigen, und der andere
war Johann Heinrich Weisgerber (1798 - 1868), der Tersteegen des Siegerlandes. Tillmann
Siebel hat Beziehungen zum Dillkreis gepflegt, wie aus einem Brief
hervorgeht, den er am 20. März 1852 „an die Brüder in Dillenburg"
schrieb. Größeren Einfluß auf die Gemeinschaftsbewegung
im Dillkreis und auf dem Westerwald hat aber Johann Heinrich Weisgerber
gehabt. Er war als junger Mann gläubig geworden, nachdem er Vater
und Mutter verloren hatte. In der Siegerländer Erweckungsbewegung
des vorigen Jahrhunderts laufen zwei Linien: der bewußte
reformierte Pietismus und die von Wittgenstein und Tersteegen
stark beeinflußte pietistisch
mystische Richtung, bei der aber das Wort Gottes im Mittelpunkt
stand. Der Hauptvertreter der zweiten Linie ist Johann Heinrich
Weisgerber. Weisgerber wurde bekannt mit dem Schuhmacher Johannes Waldschmidt aus Frohnhausen, der als Geselle in Siegen
arbeitete und dort seine Bekehrung erlebte. Nach Frohnhausen zurückgekehrt,
begann er Versammlungen in seinem Haus zu halten, und es ist belegt,
daß Heinrich Weisgerber 1834 Frohnhausen besucht hat und mit
dem Wort diente. Die Kirchenchronik berichtet von einem "Muckerapostel aus Siegen", der im Haus eines Schusters
eine Versammlung hielt, daran aber polizeilich gehindert wurde.
Auch an anderen Orten des Dillkreises besuchte Weisgerber die
Gläubigen und diente ihnen mit dem Wort Gottes. So in Haiger,
Haigerseelbach und auch in Liebenscheid.
Einmal hat man ihn mit einem Ochsenkarren über die Kalteiche ins
Siegerland abgeschoben. Selbst der Landesbischof Müller
von Nassau nahm in einem Schreiben Stellung gegen den gefährlichen
"Schusterprediger aus Siegen" -
Die außerkirchliche Bewegung hat nach dem Freiheitsjahr 1848 auch im Dillkreis
einen starken Aufschwung genommen. Nachdem 1789 ein Gesetz herausgegeben
worden war, das die Freiheit des Einzelmenschen in Handel, Gewerbe
und Wirtschaft regelte, kam es 1848 zur Regelung der Presse-
Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Damit waren die staatlichen
Übergriffe auf außerkirchliche Bestrebungen außer Kraft gesetzt,
und es entfaltete sich in vielen Gegenden ein reges Versammlungs-
und Vereinsleben. Nach dieser grundlegenden Umstellung im öffentlichen
Leben kamen nach 1848 auch andere Prediger des Evangeliums in
den Dillkreis: die Boten des Evangelischen Brüdervereins (der
1850 in Elberfeld gegründet worden war), der Evangelischen Gesellschaft
und auch der Neukirchener Missionsanstalt. Weiter kam es im Jahr
1863 zur Gründung des "Vereins zur Pflege des christlichen
Gemeinschaftslebens im Dillkreis", der später umbenannt wurde
in „Herborn - Dillenburger Gemeinschaftspflege- und Erziehungsverein"
und der im Segen in unserer Gegend gewirkt hat und noch wirkt.
Im Volksmund kurz "Herborner Verein" genannt. Durch
die Boten des Brüdervereins, die besonders im Dill- und Dietzhölztal missionierten, kam die Nachricht hierher,
daß Hermann Heinrich Grafe
(1818 - 1869) 1854 in Elberfeld eine Freie evangelische Gemeinde
gegründet hatte. Satzungsmäßig waren die Boten des Vereins gehalten,
in den Versammlungen zu Fragen nach dem HErrnmahl und der Taufe
keine Stellung zu nehmen. In persönlichen Gesprächen ließ sich
das aber nicht vermeiden. So kam es in Haiger zur Bildung eines Kreises freikirchlich
eingestellter Brüder. Karl
Utsch schreibt: "In Haiger fanden schon damals zu Fastnacht,
am Himmelfahrtstage und am Buß- und
Bettag die noch heute bestehenden größeren Versammlungen statt.
Sie wurden von vielen Gläubigen aus dem Siegerland und dem Dillkreis
gern besucht und hatten für das Wachstum und die Gestaltung der
Gemeinden eine große Bedeutung." Hier wurde dann auch regelmäßig
das HErrnmahl gefeiert, an dem sich auch Geschwister vom Westerwald
beteiligten.
aus der Festschrift: 50 Jahre Freie evangelische
Gemeinde in Breitscheid und auf dem Westerwald 1912-1962
die ganze Festschrift als PDF-Datei
!
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