2. Mündliche Weitergabe zuverlässig?
Inwieweit waren die Voraussetzungen für exaktes nichtschriftliches Einprägen und Weitergeben vorhanden? Ob Monate oder Jahrzehnte bis zur Niederschrift vergingen, die entscheidende Frage ist: Prägten Jesu Anhänger sich Aussprüche ein, wiederholten sie, wandten sie wiederholt an?
a) Drei Stunden Jesus-Reden
Das NT ist eigentlich kein umfangreiches Buch. Und wenn wir uns auf die darin enthaltenen Worte Jesu beschränken, wie groß ist der Gesamtbestand an diesen Worten? Rechnen wir mehrfach vorkommende Aussprüche nur jeweils einmal. Für ein Kapitel laut lesen braucht man ca. 5 Minuten. Insgesamt umfassen Jesu Aussprüche/Reden ungefähr 36 Kapitel, wir kommen also auf ca. 3 Stunden. Das ist eigentlich sehr wenig! Wenn die 11 Jünger ein bis drei Jahre mit Jesus gingen – wie oft werden sie dann Jesu Haupt-Gedanken gehört haben!
Versuchen wir einmal eine etwas schematische Rechnung: Angenommen, Jesus sagte zu seinen Jüngern nicht mehr als das im NT Berichtete (diese Annahme wird aber kaum stimmen). Nehmen wir ferner an, Jesus sprach täglich 3 Stunden. Wenn seine Schüler ihn knapp 3 Jahre begleiteten, so hörten sie Jesu Aussprüche tausendmal. – Das ist zugegebenermaßen eine schematische
Rechnung. Eine Reihe der berichteten Aussprüche Jesu waren sicherlich einmalig – etwa im Dialog gefallene Aussprüche. Doch daneben gab es wohl auch solche, die Jesu Begleiter tatsächlich oft zu hören bekamen – all das, was Jesus in seinen Reden oft aussprach. Und selbst wenn jemand – unter Vernachlässigung des Johannesevangeliums – nur mit einem
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einzigen Jahr öffentlichen Wirkens Jesu rechnet, ergibt sich doch schon eine oftmalige Wiederholung der Worte Jesu. Sind 3 Stunden Redestoff leicht zu behalten? Nein, nicht leicht, aber möglich. Denken wir einmal an Schauspieler: Bei weitem nicht alle tun
sich leicht beim Auswendiglernen, manche sogar sehr schwer. Der Lernstoff einer Hauptrolle in einem Theaterstück kann 1 Stunde
Reden durchaus übersteigen. Wenn die beiden Teile von Goethes Faust gemeinsam an einem einzigen Abend aufgeführt werden – was gelegentlich vorkommt -, hat der Hauptdarsteller etwa 3 Stunden eigenen Redestoff zu behalten. Und das schaffen offenbar auch schwach begabte Auswendiglernende. Heute wird in unseren Schulen kaum mehr auswendiggelernt. Etwa bis zu den 1960er Jahren war das noch anders. Betrachten wir den Umfang der Gedichte, die am Ende des 19. Jahrhunderts im Deutsch-Unterricht eines österreichischen Gymnasiums auswendig zu lernen waren. Der Umfang von Schillers Ballade Die Bürgschaft mal 35 ergibt etwa den gesamten Umfang der damals zu lernenden Gedichte. Die Zeit, um diese Gedichte aufzusagen, ist etwas länger als 3 Stunden. (Nun könnte man sicher einwenden, dass diese Gedichte ja im Verlaufe von 8 Jahren zu lernen waren. Andererseits handelt es sich
hierbei bloß um den Deutschunterricht, also um ein Fach neben anderen – und auch dieses Fach behandelte neben diesen Gedichten noch vieles andere.
Die Schüler hatten also während dieser 8 Jahre wesentlich mehr als nur diese Gedichte zu lernen.)
In der Volkskunde werden mündliche Überlieferungen untersucht. Dabei zeigt sich: Solche Überlieferungen sind mitunter geschichtlich durchaus zuverlässig. Die mündliche Weitergabe kann über Jahrhunderte hinweg gut funktionieren. Die Menge der überlieferten Stoffe, die ein Erzähler im Gedächtnis hat, beträgt manchmal das zehnfache der (von mir auf 3 Stunden
geschätzten) Jesusworte. Mitunter sind diese Stoffe sogar wörtlich festgelegt.
Natürlich gibt es nicht sehr viele solche Er-
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zähler, die das dazu erforderliche gute Gedächtnis und außerdem Erzähltalent haben, aber gerade in zivilisationsfremden Kulturen sind sie recht verbreitet. Eine solche Kultur war auch das ländliche Galiläa zur Zeit Jesu. Es wäre hier auch an die Erfahrungen von Gefangenen zu denken, denen das Schreiben verboten war.
So berichtet etwa Alexander Solschenizyn in seinem Buch Die Eiche
und das Kalb: „Dafür musste ich im Lager die Gedichte auswendiglernen
– viele Tausende von Zeilen…. als ich mich von der Leistungsfähigkeit
meines Gedächtnisses überzeugt hatte, ging ich daran, Prosadialoge aufzuschreiben und auswendigzulernen, und nach und nach auch geschlossene Prosa. Das Gedächtnis nahm alles auf! Es ging. Aber ich brauchte immer mehr Zeit für das allmonatliche Wiederholen all des Auswendiggelernten – bis zu einerWoche pro Monat.“ (Darmstadt/Neuwied I975, S. 9).
Oder Richard Wurmbrand berichtet: „Während meiner Gefängniszeit dichtete ich mehr als dreihundert Gedichte, insgesamt hunderttausend Worte, die ich nach meiner Freilassung alle niederschrieb.“ (In Gottes Untergrund.
Mit Christus 14 Jahre in kommunistischen Gefängnissen. Berghausen
o.J. [ca. 1967] S. 89.) Wurmbrand spricht hier von 100 000 Worten – das entspricht fast dem Umfang des NT. Und in einem anderen Buch: „Ich hatte eine ganz schwache Hoffnung, eines Tages entlassen zu werden. Und deshalb versuchte ich, meine Predigten im Gedächtnis zu behalten…. So verfasste auch ich meine Reime, lernte sie dann auswendig und behielt sie durch ständiges Wiederholen im Gedächtnis“ (S.7). In seinem Buch Stärker
als Kerkermauern. Botschaften aus meiner rumänischen Einzelzelle (Wuppertal 1969) präsentiert er 22 dieser Predigten, er gibt aber an, insgesamt etwa 350 Predigten im Gedächtnis behalten zu haben. Rechnet man den Umfang hoch, kommt man insgesamt auf mehr als das Dreifache des NT. Literatur dazu: Jacob Rappold, Die am Gymnasium auswendig zu lernenden deutschen Gedichte. 5 Hefte. Wien 1888 (es handelt sich
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insgesamt um fast 6o Gedichte). – Zur Volkskunde; Thorleif Boman, Die Jesus Überlieferung im Lichte der neueren Volkskunde (1967) Kap.I.
– Das NT enthält lt. Robert Morgenthaler, Statistik des neutestamentlichen Wortschatzes (31982), S. 8, rund 140 000 Worte.
b) Auswendiglernen: Schüler, Rabbinen und Philosophen
Betrachten wir zuerst den Unterricht in der damaligen Zeit, um einen generellen Eindruck zu erhalten.
Die Schüler der jüdischen Rabbinen hatten die Aufgabe, sich die Worte des Meisters durch beständige Wiederholung einzuprägen. Auch an den Philosophen- und Rhetorenschulen wurde viel auswendiggelernt. Das Auswendiglernen war also ein wesentlicher Bestandteil des damaligen Bildungswesens, und zwar auch in den höchsten Stufen. (Heute denken wir dabei eher an die Grundschule).
Wie in anderen Kulturen des Altertums wurde auch bei den Juden viel auswendiggelernt. So behauptete der Jude Flavius Josephus (um 100 n. Chr.):
„Bei uns hingegen mag man den ersten besten über die Gesetze befragen, und er wird sämtliche Bestimmungen derselben leichter hersagen als seinen eigenen Namen. Weil wir nämlich gleich vom Erwachen des Bewusstseins an die Gesetze erlernen, sind sie in unsere Seelen sozusagen eingegraben“ (Contra Apionem II, 178). Diese Formulierung ist sicherlich etwas überspitzt, muss aber doch einen wahren Kern haben. Wie wichtig das Auswendiglernen
genommen wurde, zeigen auch Gedächtnishilfen: z.B. die alphabetisierende Dichtung in Sprüche 31, 10-31 (diese 22 Verse beginnen der Reihe nach mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets). Heute sind wir darauf eingestellt, wichtige Nachrichten so-
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fort schriftlich festzuhalten, um ein Vergessen zu verhindern. Das war anders zu einer Zeit, in der Beschreibstoffe (wie Pergament oder Papyrus) nicht in beliebiger Menge zur Verfügung standen. Damals waren die Menschen darin geübt, ohne schriftliche Aufzeichnungen auszukommen und sich wichtige Nachrichten einzuprägen. Insofern ist es für uns heute gar nicht so einfach, die Verlässlichkeit der damaligen mündlichen Traditionsweitergabe
zu beurteilen; wir dürfen jedenfalls nicht von unseren eigenen Verhältnissen ausgehen. Wir müssen mit einer grundsätzlich anderen Einstellung zum Gehörten rechnen – mit einem wesentlich konzentrierteren Aufnehmen. Literatur dazu: Riesner 44.53.115-123.193-197; zum AT 365f.440-443.450-453.
c) Auswendiglernen: Indizien im NT dafür?
Hat Jesus mit seinen Schülern auswendiggelernt? Auch wenn so etwas in Jesu Umwelt häufig vorkam, heißt das noch nicht, dass auch Jesus dies praktiziert hat. Bei der Beantwortung dieser Frage stoßen wir nun auf ein methodisches Problem. In den Evangelienberichten finden wir durchaus manche Hinweise darauf, dass Jesu Wirken sich mit einem Schulbetrieb vergleichen läßt. Doch können wir uns auf die Evangelienberichte, auch in den Einzelheiten, verlassen? Genau das ist ja die Frage, die erst beantwortet werden soll. Wer die Evangelienberichte für historisch zuverlässig hält, wird auch die darinliegenden Hinweise ernst nehmen, dass Jesu Wirken Parallelen zu einem Schulbetrieb zeigte. Doch demjenigen braucht man gar nicht mehr nachzuweisen, dass Jesu Worte zuverlässig überliefert sind – das setzt der Betreffende ja bereits voraus.
Wir wenden nun folgende Methode an: Wir untersuchen die Berichte und halten Hinweise auf Schulbetrieb oder ähnliches
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fest (und, im nächsten Abschnitt, Hinweise darauf, dass Jesus seinen
Aussprüchen häufig eine poetische Formung verlieh). Daraus können wir dann schließen, dass die Berichte den Anschein erwecken, dass Jesus seinen Schülern Aussprüche einprägen wollte. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten:
- 1. Jesus wollte wirklich seinen Schülern Aussprüche einprägen.
- 2. Die Berichte erwecken fälschlich diesen Anschein (hier wäre dann noch zu prüfen, ob dieser Anschein von den Evangelisten zielgerichtet erweckt wurde).
Wir versuchen also, einen Gesamteindruck zu erhalten, ohne in jedem Einzelfall zu überlegen, wieviel für oder gegen die Echtheit eines bestimmten Jesuswortes spricht.
Der Rabbi und seine Schüler
Beim damaligen Schulunterricht sprach der Lehrer laut vor, was die Schüler auswendiglernen sollten. Der Aufruf „Höre!“ konnte deshalb geradezu zur einführenden Kennzeichnung eines auswendigzulernenden Zitates werden – Aufrufe dieser Art findet man auch in den Worten Jesu gelegentlich: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (also Hörformeln). Zu erwähnen wäre
auch die Amen-Formel. Diese deutet darauf hin, dass nun eine besonders wichtige Aussage kommt – die eingeprägt werden soll.
Wenn Jesu Jünger bloß diese Sätze sich eingeprägt hätten, alle anderen in den Evangelien berichteten „Worte Jesu“ jedoch freie Erfindung wären, so wäre der Anteil des Authentischen noch immer sehr klein. Das ist also nicht der entscheidende Punkt, sondern: Wenn Jesus tatsächlich die Gewohnheit hatte, die Aufmerksamkeit seiner Anhänger auf bestimmte Sätze hinzulenken, die sich diese einprägen sollten, so läge darin ein Hinweis, dass das Einprägen wichtiger Aussagen bei der Tätigkeit Jesu wesentlich war. Im
Sinne von: Es geht nicht bloß darum,
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einen bestimmten Grundgedanken, eine bestimmte Haltung intuitiv erfaßt zu haben, sondern sehr wohl auch darum, sich bestimmte Formulierungen einzuprägen.
Übrigens läßt bereits die Bezeichnung als „Jünger Jesu“ (oder verständlicher übersetzt: „Schüler Jesu“ – wie auch im Buchtitel) etwas von dieser Verbindung mit dem Lernen erkennen: das griechischeWort für „Jünger“ (nämlich mathetés) heißt eigentlich „Lernende“, Ein Jünger Jesu ist demnach jemand, der bei Jesus und von Jesus lernt. Es fällt auf, dass dieses Wort im NT nur in den Evangelien und in der Apostelgeschichte vorkommt – schon das lässt
vermuten, dass der Begriff mathetés auf ein Phänomen im Leben Jesu zurückweist. Hier könnte auch noch Jesu Aufforderung erwähnt werden: „Lernt von mir“ (Mt 11,29) .
Jesus wurde mit dem Titel Rabbi (= Lehrer) angeredet, obwohl er
kein schulmäßig gebildeter oder gar ordinierter Rabbi war. Dabei geben die Evangelien nicht nur die griechische Übersetzung des Wortes Rabbi (didáskalos) wieder, sondern gelegentlich auch die hebräische bzw. aramäische Urform. Sowohl bei der Anrede seitens seiner Jünger (Mt 26,25.49: Judas; Mk 9, 5: Petrus mit seinem Hütten-Vorschlag; Mk 11,21 Petrus beim Hinweis auf den Feigenbaum; Joh 4,31: „Rabbi, iss!“; Joh 9,2: „Rabbi, wer hat gesündigt?“; Joh 11,8: „Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen“; Joh 20,16: Maria nach der Auferstehung) als auch seitens Außenstehender (Joh 1,38.49: „Rabbi, wo hältst du dich auf?“; Joh 3,2: Nikodemus; Joh 6,25: die Jesus suchende Volksmenge nach der Brotvermehrung; Mk 10,51:
der Blinde bei Jericho). Die Evangelisten waren sich wohl dessen bewusst, dass es sich hier um einen nicht einfach auswechselbaren Fachausdruck gerade des jüdischen Schulwesens handelte.
Das Markusevangelium unterscheidet zwischen (Erst-) Verkündigung (kerýsso) und Lehren/Erläutern (didásko). Letzteres, das Lehren also, beinhaltete bei jüdischen und hellenistischen Lehrern auch das Wiederholen und das Auswendiglernen. Eine
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Parallele kann auch darin gesehen werden, dass sich Jesus (gemäß den Synoptikern) zum Lehren niedersetzte.
Literatur zu Schüler und Hörformeln: Riesner 120.371- 379.339-343.408-411.440.445f; zu kerýsso 365-370.40-54; zu Rabbi: Helmut Burkhardt, Wie geschichtlich sind die Evangelien? (1979), S. 19-22
Überliefern und empfangen
Ein Vergleich mit der rabbinischen Praxis hilft uns auch beim Verständnis von Ausdrücken, die mehrmals bei Paulus vorkommen: „überliefern“ (paradídomi) und „empfangen“ (griech. paralambáno). Der eine überliefert (oder übergibt), der andere empfängt (oder übernimmt). Wir müssen einen Augenblick bei diesen Worten verweilen. Jemand übernimmt etwas und übergibt das Übernommene dann an andere. (Ich bevorzuge den Ausdruck „übergeben“, weil „überliefern“ ein im theologischen Bereich vielgebrauchtes Wort ist, das im Laufe des Gebrauchs auch mit manchen Bedeutungsverschiedenheiten beladen wurde.)
Hören wir dazu Gerhardsson: „Einen Text zu, ´überliefern‘ ist nämlich nicht das gleiche wie ihn einmal vorzutragen. Das bedeutet, ihn den Zuhörern so zu geben, dass diese ihn, ´entgegengenommen‘ haben und ihn besitzen, d.h. über ihn verfügen können. “
Solche Ausdrücke weisen auf eine Traditionskette hin, in der ein Schüler etwas von einem Lehrer empfängt und es dann seinerseits (selbst Lehrer geworden) an seine eigenen Schüler überliefert. Paulus sagt: „Ich habe von dem Herrn übernommen, was ich auch euch übergeben habe“ (1.Kor 11, 23) und zitiert daraufhin den Abendmahlstext. Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass dasselbe, was übernommen wurde, dann auch
weitergegeben wird – und nicht eine willkürlich und stark
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veränderte Sache (hier: ein veränderter Text); sonst könnte man sich nicht mehr so ausdrücken. Ähnlich auch bei der Erinnerung an den Auferstehungstext: „Ich habe euch vor allem übergeben, was ich auch übernommen habe“ (1. Kor 15,3). Paulus dürfte – wenn er jene Ausdrücke gebraucht – eine Traditionskette meinen, die von Jesus selbst ihren Ausgang nimmt und über die Augenzeugen
zu ihm, Paulus, führt, und die dann zu den von Paulus gegründeten Gemeinden verlängert wurde. Dieses Begriffspaar weist jedenfalls darauf hin, dass es eine sorgfältige Weitergabe von Texten im Christentum bereits in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Wirken gab, unabhängig davon, wie alt eine solche Weitergabepraxis im Judentum bereits war.
Stellen wir uns nun die Frage nach dem Alter dieser Praxis im Judentum. Es gibt die Meinung, dass sie sich erst nach der Zerstörung Jerusalems entwickelte. Prüfen wir daher, ob wir im NT Indizien dafür finden, dass sie schon vor 70 n. Chr. da war. (Die ntl. Schriften können uns dazu Hinweise geben selbst dann, wenn sie erst nach 70 n. Chr. entstanden sind. Denn der Kontakt der Christen zu den Juden nach 70 war keineswegs mehr eng, so dass es von vornherein nicht anzunehmen ist, dass die Christen jüdische
Praktiken so genau beobachtet haben, um sie dann erstens selbst zu übernehmen und sie zweitens in ihrer Geschichtsschreibung in die Zeit Jesu zurückzuverlegen.)
Paulus selbst war ursprünglich Pharisäer – unterrichtet bei Gamaliel
(Apg 22,3). Was lernte er dort? Einmal spricht er vom Gesetz der Väter (Apg 22,3), ein anderes Mal von den Gebräuchen der Väter (Apg 28, 17) und wieder ein anderes Mal von den Überlieferungen der Väter (Gal 1, 14). Da sich Paulus nur wenige Jahre nach Jesu Kreuzigung bekehrte, muss seine eigene pharisäische Ausbildungszeit während oder vor dem Wirken Jesu liegen. Damals gab es also schon Unterricht, in dem Überlieferungen der Väter weitergegeben wurden. Für das Händewaschen vor dem Essen
hatten die Pharisäer spezielle Überlieferungen, die sie übernahmen
(Mk 7,4) und übergaben (Mk 7, 13).
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Es sieht also so aus, dass der Akt des Überlieferns (mit dem als „Überlieferung“ bezeichneten Inhalt) bereits zur Zeit Jesu bei den Juden gebräuchlich war. Im Hinblick darauf ist es natürlich aufschlussreich zu sehen, dass die gleiche Terminologie auch für den Unterricht der Christen verwendet wurde. Dass Paulus übernommen hat und dann seinerseits übergab, haben wir bereits gesehen. An vielen weiteren Stellen spricht Paulus von Überlieferungen (2. Thess 2,15), die er den Gemeinden überliefert/ übergeben hat: 1.Kor 11,2; die Gemeinden ihrerseits haben es von Paulus empfangen/übernommen:
Gal 1,9; Phil 4,9; 1. Thess 2,13; 4,1; 2. Thess 3,6). – Diese Terminologie ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Weitergabe der Worte Jesu in Analogie zum rabbinischen Lehrbetrieb erfolgte.
Dass Jesus auch Gleichnisse verwendete, ist bekannt. Warum er das tat, erscheint nicht immer so klar: Wäre es nicht besser gewesen, er hätte sich stets verständlich ausgedrückt? Oft verhüllt ein Gleichnis doch eher. Um so erstaunlicher ist es dann, wenn man über Jesus lesen muss „In vielen solchen Gleichnissen redete er zu ihnen das Wort … Ohne Gleichnis aber redete er nicht zu ihnen“ (Mk 4,33f). War das Reden in Gleichnissen also Jesu ständige Lehrweise? Um das zu verstehen, müssen wir uns bewusst machen was ein „Gleichnis“ ist. Was im Griechischen mit parabolé bezeichnet
wird, heißt im Aramäischen maschal. Gemeint ist damit eine malerische Aussage – egal, ob kurz oder lang. Ein Bild, ein Gleichnis, ein Sprichwort, ein Rätsel … Einfach all das, was sich vom „Klartext“ unterscheidet.
Das atl. Buch der Sprüche Salomos heißt Salomos Meschalim
(Meschalim = Mehrzahl von maschal). Wer in Form solcher Sprüche
unterrichtet, ist ein Maschalist (und kein Gesetzeslehrer = Halachist).
Jesus war ein solcher „Maschalist“. Er legte seinen Zuhörern „Meschalim“ vor – Gleichnisse und Aussprüche, die nicht sofort verständlich sind, die von den Zuhörern zumindest im ungefähren Wortlaut festgehalten werden müssen, damit sie anschließend darüber nachdenken können. Gerade bei solchen
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Inhalten ist ein Einprägen unumgänglich – daher markige, einprägsame, mitunter übertreibende Sprüche, daher auch mehrmalige Wiederholungen.
Literatur zum Überliefern: Riesner 11,55-62.70f.344f; Birger Gerhardsson, Die Anfänge der Evangelientradition (1977), S. 16- 31 (Zitat S. 28).
– Zu den Gleichnissen: Gerhardsson 49-52.
d) Jesus, der Poet
Die eine Frage ist, wie leistungsfähig damals das Gedächtnis war (bzw. wie stark die Menschen auf das Behalten von Gehörtem eingestellt waren); die andere Frage ist, wie kompliziert der „Merkstoff“ war. Diese Frage soll uns jetzt beschäftigen.
Jesus nützte die zeitgenössischen Kenntnisse hinsichtlich Rhetorik und Mnemotechnik (= Erinnerungstechnik) intensiv aus. Dazu gehörte auch die poetische Formung des Gesagten. Häufig findet sich der „antithetische Parallelismus“: die beiden Satzhälften
sind parallel und antithetisch (= gegensätzlich) geformt. Dazu einige
Beispiele aus dem Markusevangelium:
„Viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (10,31).
„Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen“ (13,31).
„Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (2, 27).
„Wer sein Leben erretten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird es erretten“ (8, 35).
Manchmal wirken Begriffswiederholungen monoton etwa beim „Salzwort“. Aber gerade solche Wiederholungen erleichtern das Behalten: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz aber kraftlos wird, womit wird man es salzen?“ (Mt 5,13).
Außerdem war es wichtig, eine kurze Formulierung zu fin-
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den. Das war Jesus oft gelungen, so dass viele der heute geläufigen Sprichwörter auf Jesus zurückgehen. Viel Gebrauch machte Jesus auch von Bildern, um mit ihrer Hilfe einen Sachverhalt einprägsam zu machen. Wie die Propheten (aber im Gegensatz zu den Rabbinen seiner Zeit) verwendete Jesus häufig Imperative und redete seine Hörer persönlich an, meist in der zweiten Person Plural: „wer von euch …“
Literatur dazu: Riesner 359-361.370f.392-404; Helmut Burkhardt, Wie geschichtlich sind die Evangelien? (I979), S. 23; Walter Bühlmann/Karl Scherer, Stilfiguren der Bibel (1973).
e) Tausendmal das gleiche gehört
Selbst wenn ein längerer Zeitraum zwischen den Reden Jesu und ihrer Niederschrift läge, so bedeutet das natürlich nicht, dass die Jünger die Reden Jesu angehört hatten und daraufhin Jahrzehnte verstreichen ließen, ohne sich jemals an das Gehörte zu erinnern. Es gab eine Reihe von Faktoren, die dazu beitrugen, dass sich die Jünger Jesu zumindest einzelne seiner Aussagen fest einprägten.
Manche Worte Jesu waren bereits zu der Zeit aktuell, als er noch mit seinen Jüngern zusammen war. Zum Beispiel seine Regeln über das Verhalten der Jünger untereinander (Mk 10,44: „Wer bei euch der Erste sein will soll der Sklave aller sein“) und über das Verhalten gegenüber Außenstehenden.
An solche Regeln wird Jesus seine Jünger sicherlich bei mehreren Gelegenheiten erinnert haben (müssen!).
Eine mehrmalige Wiederholung war für die Jünger schon dadurch gegeben, dass sie ja immer mit Jesus zogen und daher auch bei seinen Reden an die Volksmengen dabei waren; der Inhalt dieser Reden wird sicherlich an verschiedenen Orten ähnlich gewesen sein. Das gilt dann insbesondere für die Lehr-
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Zusammenfassungen – wenn ein Gedanke einmal eine prägnante Form gefunden hat, motiviert das Lehrer und Schüler zur Wiederholung.
Als Jesus seine Jünger – vor Ostern – aussandte, gab er ihnen eine
konkrete Botschaft mit: „Das Himmelreich ist nahe“ (Mt 10, 7). Das war eine Situation, in der sich die Jünger eine Botschaft Jesu inhaltlich einprägen mussten um sie dann korrekt weitergeben zu können.
Aufgrund solcher Umstände waren die Jünger gezwungen, sich manche Aussprüche Jesu sofort und fest einzuprägen. Wenn man aber etwas einmal fest eingeprägt hat und es außerdem durch neuerlichen Gebrauch wiederholt auffrischt, dann wird die Erinnerung daran durchaus verlässlich.
Manche Aussprüche Jesu tragen schon in sich Wiederholungs-Charakter. Einige Beispiele („Parallelismen“) hatten wir bereits im vorigen Abschnitt („Jesus, der Poet“). Man könnte noch die Wiederholung desselben Wortes am Anfang von aufeinanderfolgenden Sätzen („Anapher“) erwähnen; z. B. die Seligpreisungen (Mt 5,3-11). Oder die sog. „Inclusio“: ein markantes Wort kommt im ersten und nochmals im letzten Vers eines Abschnitts vor; z. B. „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16-20).
Überhaupt ist es auffällig, dass in dem Buch von Walter Bühlmann/Karl Scherer, Stilfiguren der Bibel (Fribourg 1973) das 1. Kapitel („Figuren der Wiederholung„) das weitaus umfangreichste ist – ein Hinweis auf die Bedeutung der Wiederholung in der biblischen Kultur.
Literatur dazu: Riesner 428f (Verhalten). 361-364.430 (mehrfach).
453-455.468-474 (vorösterlich). 42f.62 (nachösterlich).
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f) Vom Zitieren, Berichten und frei Erfinden
Wie bereits erwähnt, wurden die Jünger schon vor Ostern mit einer bestimmten Botschaft ausgesandt. Solche Sendungen und Auftragserteilungen kommen in den Evangelien mehrmals vor. Dabei fällt auf: Der Beauftragte gibt die Botschaft mit genau den gleichen Worten wieder, wie sie vom Auftraggeber formuliert wurden. Dazu einige Beispiele.
Der Täufer Johannes sendet zu Jesus mit der Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“; gegenüber Jesus wird die Frage wörtlich wiederholt – unter Berufung auf Johannes: „Johannes lässt sagen: …“ (Lk 7, 19f)
Als Jesus zwei Jünger um ein Eselsfüllen schickt, sagt er ihnen auch gleich die Antwort, die sie auf eine etwaige Gegenfrage geben sollten: „Der Herr benötigt es.“ Dieselben Worte verwenden die Jünger dann auch (Lk 19,31.34).
Beim Auftrag, das Passamahl vorzubereiten, gibt Jesus ihnen den genauen Text für ihre Aussage an, den Auftraggeber beinhaltend: „Der Lehrer sagt:
Wo ist mein Gastzimmer … ?“ (Mk 14,14). Eine solche Einleitung legt es nahe, dann auch tatsächlich das zu sagen, was eben „der Lehrer sagt“.
Nun könnte man die Historizität der Berichte in Frage stellen. Doch unabhängig davon wird hier sichtbar, wie der Berichterstatter (der Evangelienschreiber also) die Aufgabe des Wiedergebens einer Aussage sieht: Als eine exakte, möglichst wörtliche Wiedergabe. Das erkennt man bei den Aussendungen, aber auch an anderen Stellen. Insbesondere im Johannesevangelium finden wir häufig eine solche – monoton wirkende – wörtliche Wiedergabe:
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Beispiele für wörtliche Wiedergaben:
4,7.10 | „Gib mir zu trinken!“ |
17 | „Ich habe keinen Mann“ |
50.53 | „dein Sohn lebt“ |
5,8.11(f) | „Nimm dein Bett auf und geh umher!“ |
7,34.36 | „Ihr werdet mich suchen und nicht finden, und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.“ |
8,21f | „wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen“ |
13,25 und 21,20 | „Herr, wer ist es?“ |
14,8f | „zeige uns den Vater“ |
2 und 18.28 | „ich gehe hin“, „ich komme zu euch“ |
16,16.17.19 | „Eine kleine Weile, und ihr seht mich nicht, und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich sehen.“ |
18,5f | „Ich bin’s“ |
21,22f | „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?“Hier haben wir auch gleich ein Beispiel für Differenzierungsvermögen. Ein Gerücht („Jener Jünger stirbt nicht“), gegründet auf Auslegung dieses Wortes, wird vom Schreiber zurückgewiesen, indem er nochmals den genauen Wortlaut des Ausspruches Jesu wiederholt.Das Johannesevangelium berichtet von weiteren Beispielen, wo differenziert wurde. Das Schild, das Pilatus ans Kreuz Jesu hängen ließ, sagte: „Der König der Juden“. Die Priester wollten korrigieren: Er ist es nicht, er hat bloß gesagt, dass er es sei (19,21). |
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Beispiele für nicht ganz wörtliche Wiedergaben:
1,48.50 | „unter dem Feigenbaum“ (zuerst hypò mit 4. Fall, dann hypokáto mit 2. Fall, aber praktisch bedeutungsgleich) |
3,3.7 | „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ – „Ihr müsst von neuem geboren werden“ |
4,29.39 | „Er hat mir alles gesagt, was [zuerst hósa, dann hà] ich getan habe“ |
9,7.11 | „Geh (wasche dich) zum Teich von Siloa“ – „Geh zum Siloa und wasche dich“ |
17,9.12 u. 18,9 | „für die, die du mir gegeben hast… keiner von ihnen ging verloren“ – „die du mir gegeben hast – ich habe keinen von ihnen verloren“ |
Beispiele für sinngemäße Wiedergabe:
9,40f | „Sind denn auch wir blind?“ – „Wir sehen“ |
10,25.29f.32.36 | „… Vater …“ – „Ich bin Gottes Sohn“ |
War der Evangelist beim Berichten immer ganz exakt? Angenommen, ein Dialogpartner gab nicht wörtlich, sondern sinngemäß wieder, und der Evangelist berichtet nun in Form einer exakten Wiedergabe. So sagt das doch etwas darüber, wie der Evangelist selbst die Wiedergabe einer Aussage betrachtete – nämlich als etwas, was sehr genau erfolgen sollte.
Hier könnte man auch noch auf die Zitate aus dem AT verweisen. Diese finden wir im NT häufig. Dabei fällt auf, dass die Zitate aus dem AT ein Bemühen um wörtliche Wiedergabe zeigen (nicht unbedingt des hebräischen Textes, sondern zumeist der Septuaginta). Während die äußere Form – die Worte – ziemlich genau wiedergegeben wird, kann der ursprüngliche Sinn manchmal
wesentlich verändert werden. Ja, mitunter wird der
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neue Sinn sogar aus winzigen Einzelheiten des Textes abgeleitet (z.B. Gal 3,16). Auch das zeigt, dass die genaue Wiedergabe von Texten für die ntl. Autoren eine bedeutende Rolle spielte. Im AT finden wir übrigens auch ein Beispiel für eine ausführliche Wiederholung: 1.Mose 24,3-8 und 37-41. Literatur dazu: Riesner 468f.
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3. Es begann mit ungebildeten „Fanatikern“
Da Jesus selbst nichts aufgeschrieben hat, sind wir darauf angewiesen, dass seine ständigen Begleiter, insbesondere die „Zwölf“, Jesu Botschaft sorgfältig weitergaben. Besaßen seine Anhänger dazu die nötigen intellektuellen und emotionalen Voraussetzungen?
a) Eine Handvoll unliterarischer Fischer
Ein Zweifel an den intellektuellen Voraussetzungen könnte folgendermaßen formuliert werden:
„Jesu Anhänger waren ungebildete Menschen, z.B. Fischer. Von solchen
Menschen kann man nicht erwarten, dass sie Jesu Aussagen exakt behalten und weitergeben. “
Konnten Jesu Anhänger schreiben? Waren sie fähig, sich Inhalte genau einzuprägen? Erinnern wir uns an die Kapitel 1b, 2b und c. Für die Juden waren das Erlernen eines Handwerks und das Erwerben religiöser Bildung keine Gegensätze; bei den Pharisäern z.B. war eine solche Kombination das Normale. Aus der Tatsache,
dass jemand „bloß“ Handwerker war, kann man also keineswegs auf einen niedrigen Bildungsstand schließen. Man könnte die Bildung der damaligen Juden zwar als einseitig religiös beurteilen; jedenfalls hat sie dazu beigetragen, dass Lese- und Schreibkenntnisse sehr verbreitet waren. Knaben aus frommen Elternhäusern erhielten auch dann eine Elementarausbildung, wenn sie zu den unteren Gesellschaftsschichten
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gehörten. (Nebenbei: Die Fischer sind nicht zur ländlichen Unterschicht, sondern zur – unteren – Mittelschicht zu zählen.) Dass Jesu Jünger eher aus dem religiös wachen Teil des jüdischen Volkes kamen – und somit zumindest grundlegende Bildung besaßen -, ist anzunehmen.
Hinsichtlich der Bildung der Jünger Jesu ist hier nur folgende Frage wichtig: Waren diese Jünger imstande, bestimmte Inhalte
sorgfältig zu behalten und weiterzugeben? Dazu ist vor allem die Fähigkeit des Auswendiglernens nötig, und diese war gegeben. Belesenheit, etwa in philosophischer Literatur, war dabei nicht erforderlich. Selbstverständlich war es günstig, wenn bald auch Schreibgeübte zur christlichen Bewegung dazukamen. Die grundsätzliche Fähigkeit zu schreiben ist aber schon für
den ursprünglichen Anhängerkreis Jesu zu vermuten.
Neben der jüdischen Religion übte auch der Hellenismus
– jene griechisch-orientalische Kultur, die von Alexander dem Großen bis etwa Augustus dominierte – eine Wirkung auf die Bildung aus. Wie weit der Hellenismus bereits in Palästina selbst verbreitet war, kann man unter anderern daran erkennen, dass einige der „Zwölf“ (also der engsten Jünger Jesu) griechische Namen trugen: Andreas, Philippus, Thaddäus. (Das Christentum
blieb dann noch bis ins 3. Jahrhundert hinein im wesentlichen auf die hellenisierten Städte beschränkt und begann erst von da ab in nennenswerter Zahl die ungebildeten Massen der Landbevölkerung zu erreichen.)
Hier stellt sich wieder das „methodische Problem“:
Inwieweit kann ich die Historizität der ntl. Berichte voraussetzen? (Dieses Problem habe ich in Kap.2,c erläutert.) Können wir die Berufsangaben bezüglich des engsten Jüngerkreises als historisch annehmen? Daran wird kaum jemand zweifeln, weil kein Grund dafür denkbar wäre, diese Berufsangaben zu erfinden;
solche Zweifel würden sich eher dann erheben, wenn es heißen würde, die Jünger waren Hohepriester, Könige, Gelehrte …) Und ebenso die griechischen Namen oder auch die Angaben
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über das Wachstum der Bewegung? Dieses methodische Problem stellt eine gewisse Unsicherheit dar.
Zu der jungen christlichen Bewegung kamen bald auch „Gebildete“ dazu. („Gebildete“ heißt hier: solche Menschen, die neben
Elementarschulbildung und religiösen Kenntnissen auch ein größeres Maß von Allgemeinbildung erworben hatten.) Nämlich sog. „Gottesfürchtige“ (das waren Heiden, die von der jüdischen Religion beeindruckt waren und den Synagogen-Gottesdienst besuchten, ohne aber – durch Beschneidung und Tauchbad – ganz zum Judentum übergetreten zu sein), deren sozialer Status im allgemeinen hoch war; dann Pharisäer (Apg 15, 5) wie z.B. Paulus (der auch griechische Schriftsteller kannte: Apg 17,28; Tit 1,12); außerdem jüdische Priester (Apg 6,7), Leviten wie Barnabas (Apg 4,36) und Zollbeamte wie Matthäus/Levi (Mt 9,9 und 10,3) oder Zachäus (Lk 19).
Wenn man die ntl. Texte betrachtet, erkennt man in ihrer Form sowohl die jüdisch-religiösen als auch die hellenistischen Einflüsse. Die Sprache ist vom Studium des AT her geprägt; es werden aber auch hellenistische literarische Formen verwendet, und das Vorherrschen einer anekdotischen Erzählweise ist durchaus typisch für Biographien dieser Zeit.
Hier bleibt allerdings die Frage, wann diese ntl. Bücher geschrieben wurden; wenn das erst mehrere Jahrzehnte nach 30 n. Chr. geschah, kann die Sprache dieser Bücher nicht ohne weiteres
als Indiz für Eigenarten der ersten Anhänger genommen werden.
Literatur dazu: Riesner 29-32.63-68.411-414.497f. Martin Hengel,
Zur urchristlichen Geschichtsschreibung (21984) Studie I: „Antike und urchristliche Geschichtsschreibung“.
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b) Fanatismus und Phantasie
Ein Zweifel an den emotionalen Voraussetzungen könnte folgendermaßen formuliert werden:
„Wie bei allen jungen religiösen Bewegungen ist auch beim Urchristentum mit einer Neigung zum Fanatismus zu rechnen. Und wenn Menschen sich für etwas schwärmerisch begeistern, dann ist ihnen v ieles zuzutrauen: Auch, dass sie manches im nachhinein umdeuten oder dass sie sich Unwirkliches einreden.“
Wenn es im Urchristentum Begeisterung gab, dann war das eine Begeisterung für Jesus. Das beinhaltet auch: Alles, was Jesus sagt, ist wichtig.
Mehrere Faktoren standen einem nachlässigen, sorglosen Umgang mit den Aussprüchen Jesu im Wege: Erstens spielte die
Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit bei den ersten Christen eine große Rolle; zweitens wies Jesus selbst ausdrücklich auf die Wichtigkeit hin, seine Worte zu behalten; drittens war Jesus für die ersten Christen in mancher Hinsicht das, was für die Juden die Torah (das Gesetz) war; und viertens konnten sich die über Jesu Aussprüche Informierten gegenseitig korrigieren.
– Betrachten wir diese Faktoren im einzelnen. Die Frage der Historizität der folgenden Ereignisse ist gar nicht so wichtig, denn die Äußerungen zeigen zumindest die allgemeine Einstellung zum Zeitpunkt der Niederschrift.
Erstens: Die Einschärfung derWahrheitsregel war ein Hindernis dafür, Jesu Worte im nachhinein leichtfertig abzuändern.
Jesus betont, dass nicht nur ein Schwur richtig sein muss, sondern jede Aussage (Mt 5, 37). Auch bei den Jüngern finden wir nach Ostern die gleiche Betonung (Apg 5,3f; 2. Kor 1, 17ff).
Zweitens: In einer Reihe von Äußerungen unterstrich Jesus selbst die Wichtigkeit des Behaltens seiner Worte. So etwa im Gleichnis vom Hausbau: „Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, gleicht einem vernünftigen Mann, der sein
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Haus auf den Felsen baute …“ (Mt 7,24-27). Oder: „Der Himmel und die Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24,35).
Im Missionsbefehl heißt es: „… lehrt sie, alles zu bewahren, was ich
euch geboten habe!“ (Mt 28,20). Wenn sich jemand wirklich durch Jesus angesprochen fühlte, so konnte ihm nicht entgehen, dass es Jesus um die Verwirklichung und Weitergabe einer ganz konkreten Botschaft ging.
Manche seiner Aussprüche hat Jesus noch dadurch besonders betont, dass er sie durch ein „Amen“ eingeleitet hat. Dieses
„Amen, ich sage euch: …“ findet man im NT nur im Mund Jesu – auch nach Jesu Weggang hat es keiner der Jünger gewagt, so aufzutreten. Worte Jesu waren und blieben etwas Besonderes.
Drittens: In mancher Hinsicht glich Jesu Auftreten dem eines jüdischen Rabbinen. Aber es gab auch Unterschiede.
Im Zentrum der jüdischen Schriftgelehrsamkeit stand die Torah;
der Lehrer war bloß Tradent und Ausleger dieses Gesetzes. Im Zentrum des Christentums dagegen stand Jesus. Während die rabbinischen Quellen von der Berufung oder dem Entschluss zum Studium der Torah reden, sprechen die Evangelien von der Berufung in die persönliche Nachfolge Jesu. Und während es in einem jüdischen Kommentar zum Gesetz hieß: „Worte der Torah
bleiben nur dem erhalten, der sich für sie töten lässt“ (Berachoth
63b), sagt Jesus: „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“ (Mk 8,35). Außerdem: Einem jüdischen Schüler wurde empfohlen, den Lehrer zu wechseln; Jesus dagegen band seine Jünger an seine eigene Person. Der Talmud nennt namentlich ungefähr 2000 Lehrer – die Evangelien nur einen einzigen, Jesus. Die Forderung, um Jesu willen heimatlos zu werden oder
darauf zu verzichten, seinen Vater zu begraben (Mt 8,20.22), sprengt alles Herkömmliche. Auch die Salbung in Bethanien zeigt die außergewöhnliche Bedeutung Jesu: Salböl im Wert von einem Jahresgehalt wird über Jesus ausgegossen, und Jesus verteidigt diese Verschwendung! (Mk 14,3-9). Jeden-
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falls war die Aufmerksamkeit, die ein Schüler Jesu seinem Lehrer und somit auch den Worten seines Lehrers zuzuwenden hatte, größer als in einem normalen jüdischen Schüler-Lehrer- Verhältnis. Die Jesus und seinen Worten zugewandte Aufmerksamkeit lässt sich vergleichen mit jener Aufmerksamkeit, die ein religiöser Jude den Worten der Torah zuwandte.
Bedenkt man nun, welch große Aufmerksamkeit jüdische Schüler dem gesamten Verhalten ihres Lehrers beimaßen, um die rechte Lebensweise zu lernen – wie genau werden dann Jesu Schüler die Tätigkeit ihres Lehrers beobachtet haben? Und was riet Paulus seinen geistlichen Kindern? „Was ihr auch gelernt und empfangen und gehört und an mir gesehen habt, das tut!“ (Phil 4,9). Und er fordert sie auch auf, seine Nachahmer zu sein (Phil 3,17; 1.Kor 4,16; 1. Thess 1,6; 2. Thess 3,7): „Seid meine Nachahmer, wie auch ich Christi!“ (1. Kor 11, 1). Nachahmer= griech. mimetés; daher kommt unser Fremdwort „mimen“. Wenn man das griechische Fremdwort
gebrauchen will, könnte man die Worte des Paulus so wiedergeben: „Seid meine Mimen, wie ich Christi Mime bin.“ Oder lateinisch: „Seid meine Imitatoren …“Was ist demnach zu erwarten für die Aufmerksamkeit, mit der Jesu Schüler ihn beobachteten?
Von diesem Vergleich Torah – Jesus her ist auch zu überlegen, ob es nicht bald im christlichen Gottesdienst zu einer Lesung von Worten Jesu (oder Evangelienlesung) neben der Torah- Lesung gekommen
sein muss. Die Bücher Mose lasen sie, verschwiegen aber das „Ich aber sage euch: …“ (Mt 5)? Die Reinheits- und Speisegebote lasen sie, verschwiegen aber das „Nichts was in den Mund hineingeht, verunreinigt den Menschen“ (Mt 15,11)? „Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1, 17).
Hier finden wir Mose und Jesus nebeneinander – wessen Worte fand der Schreiber dieses Satzes wohl wichtiger?
Viertens:
Ein weiteres Hindernis für nachträgliche Änderungen war die gegenseitige Korrektur der Augenzeugen. Selbst
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wenn jemand etwas vergessen oder falsch verstanden hatte: Es waren genug andere Augenzeugen da, die das richtigstellen konnten. Da auch die Neubekehrten Unterricht erhielten in den Worten Jesu, wurden sie zu einer weiteren
Kontrollinstanz: Es konnte dann auch keiner der ursprünglichen Jünger Jesu so ohne weiteres eine Umänderung an den Worten Jesu vornehmen – einige Jahre nach Ostern gab es bereits viele andere, die Jesu Worte gelernt hatten und denen eine solche Änderung sofort aufgefallen wäre.
Literatur zur Wahrheitsregel: Riesner 84f. – Zum Behalten der Worte
Jesu: 31.347-352.370.433. – Zum Amen: 378.381. – Zur Torah: § 3, Abschnitte 3.2 und 4,2 Ende, § 12, Abschnitt 1.3f, § 17, Abschnitt 2.3f und 4.1; Birger Gerhardsson, Die Anfänge der Evangelientradition (1977), S. 23f.35; Martin Hengel, Probleme des Markusevangeliums, in: Peter Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien. 1983, S. 221ff.
– Zur Kontrolle: Riesner § 3, Abschnitte 1.1, 5.4 und 6.5.
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